Bonhoeffer – Spuren: Wer bin ich?

Bonhoeffer – Spuren: Wer bin ich?

Am 9. April 2006 fand im Ökumenischen Zentrum Christuskirche ein Abend zur Erinnerung an Dietrich Bonhoeffer statt. Verlesen und ausgelegt wurden Texte zu den Themen „Wahrheit“, „Verantwortung“, „Fragment“ und „Identität“, beantwortet und begleitet von Bastian Fiebig auf dem Saxophon.

Zum Thema Identität kam ein Gedicht zum Vortrag, das Dietrich Bonhoeffer am 8. 7. 1944 einem Brief aus dem Berliner Gestapogefängnis an seinen Freund Eberhard Bethge beilegte.

„Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Wer bin Ich?
Einer, der weiß, wo es lang geht:
souverän in meinen Entscheidungen,
selbstvertraut und im Geiste geordnet in meinem Alltag
Die Rollen meines Lebens weiß ich wohl zu erfüllen:
als Vater, engagiert und belastbar
als Vorgesetzter, kompetent und gerecht
als Freund, verlässlich und verständnisvoll
als Kollege, belastbar und solidarisch
als Partner, einfühlsam und phantasievoll….

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge.
Ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen.

Was weiß ICH denn von mir?
Ich tue, was man von mir verlangt,
aber ich spüre keine Leidenschaft mehr;
Ich mache Pläne, doch sie werden durchkreuzt.
Menschen treten in mein Leben und wieder heraus.
Mancher ist wie ein Lüftchen, das ich halten und erkunden will, mir aber entgleitet.
Ich möchte innehalten zum Tiefgang –
aber ich verwehre es mir.
Ich suche einen roten Faden in meinem Leben
und finde nur ein Gewirr von Erlebnissen.

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein anderer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
Und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Schweigen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

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